30. Januar 2008

Wie unvorhersehbar Staatswesen entstehen, wie fragil ihre Entwicklung ist, zeigt Nathaniel Philbrick in seinem Buch »Mayflower« an den Mühen der Pilgerväter. Spannend und anregend zu lesen!
Wir sind von unserer Geschichte geprägt, vielleicht zu sehr. Wir können uns große, gemeinsam gewollte Veränderungen gar nicht mehr vorstellen. Was auch immer wir gemeinsam wollen, das können wir erreichen. Fragt sich nur: Was wollen wir? Außer »soziale Gerechtigkeit« fällt mir auf Anhieb kein Schlagwort ein. Schlimm, geht es dabei doch nur um die Verteilung von Wohlstand, nicht darum, wie er geschaffen werden soll.
Außerdem führe ich gerade einen interessanten Mailwechsel mit einem alten Freund; ausgelöst von Landesbankkrisen geht es uns um die Frage, wann der Staat wirtschaftlich tätig werden soll.
Wie wäre da ein ganz neuer Ansatz, utopisch. Wir halten den Staat aus der Wirtschaft heraus und lassen ihn sich einmal zur Abwechslung um Religion kümmern. Wie uns früher der Staat aus der Macht der Kirchen hat befreien müssen, so könnte er uns jetzt aus der Macht der Staatswirtschaften befreien und sich um das kümmern, was die verfallenden Kirchen liegen lassen: Moral, Sitte, Anstand. Das wäre auch billiger (sogar im alten Wortsinn).
Wir könnten uns alle bewusst einigen auf ein paar moralische Grundsätze und die aussprechen. Es muss doch zehn Gebote geben, auf die wir uns verständigen können, egal ob Moslems, Christen oder Atheisten. Vermutlich würden mehr als zehn herauskommen. Nur festschreiben, benennen, sagen und plakatieren sollten wir sie. Wer darf wem wann körperliche Gewalt antun, wie schlichtet man Streit, wo entschuldigt man sich – das scheint klar, ist es aber nicht, weil es nicht ausgesprochen wird. In meiner Jugendzeit gab es noch Ohrfeigen. Ich hatte aufzustehen, wenn ein Mütterlein den Bus betrat und kein Platz mehr frei war. Ist das heute noch so?
Wir haben unter dem Mantel der Religionsfreiheit nicht nur Kreuze aus den Klassenzimmern verbannt, wir haben das Thema »Was gehört sich?« öffentlich total verdrängt. Ist Schwarzfahren ein reines Lotteriespiel – inzwischen ist Glücksspiel ja keine Sünde mehr –, ist’s ein Kavaliersdelikt oder gehört es sich nicht? Soll ich einem Raucher böse sein, wenn er die Kippe auf die Straße wirft? Und so weiter bis zu den großen Themen Geburt, Krieg und Tod.
Wie man bei der allgemeinen Entstaatlichung öffentlicher Tätigkeiten vom Zündholzmonopol über das Post- und Telefonwesen bis zum staatsunternehmenslos funktionierenden Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz erlebt, geht es wirtschaftlich auch ohne Staat. Gesetze genügen. Aber geht es moralisch ohne Staat? Ohne gemeinsame Auffassung? Vielleicht könnte da einmal gesellschaftlich zugegriffen werden.