24. Oktober 2008

Westerwelle liest aus seinem Lieblingsbuch

– so war’s angekündigt in der Stadtbücherei Bonn für Freitag den 24. Oktober 2008 zehn Uhr. Und da bin ich hingegangen. Gekommen waren zwei zehnte Klassen der Gesamtschule Beuel, etwa sechzig Schülerinnen und Schüler um die sechzehn, ihr engagierter Lehrer dazu. Da musste uns’ Guido schon fragen, ob er du sagen darf. Er durfte, fiel aber im Eifer des Vortrags immer wieder ins Sie zurück. Sonst waren noch zwei Lokalreporter und zwei eher Alte gekommen, mich inbegriffen – keine Ahnung, warum so wenige. Also wurde dieses »Deutschland liest« zu einer guten Schulstunde.

Wir saßen wie immer bei Lesungen in der Kinderabteilung auf kindgerechten Teppichstufen und niedrigen Hockern. Gespannt. Herr Lehrer ermahnte wie ein Dirigent zu Aufmerksamkeit: »Handys aus, kein Kaugummi, keine Ohrhörer, wer noch muss …!« Dann Einzug der Entourage, ganz knappe Vorreden. Als erstes ließ Westerwelle die Klasse aufstehen, wie nicht mehr üblich – für das Gruppenfoto mit Politiker in der Zeitung. Die Stimmung lockerte sich. Der Vorleser und Redner, fesch im dunklen Maßanzug und gelb-schwarz-gestreifter Krawatte, hatte ein rundes Tischchen mit Wasser und Kaffee bekommen.
Was mochte Guido Westerwelles Lieblingsbuch sein? Nun, er hatte gleich drei mitgebracht, und empfahl den Schülern, wenn, dann richtig zu lesen: Klassiker wie Faust. Die seien so voller nützlicher Redewendungen, »hier bin ich Mensch« und so. »Vielleicht habt ihr das schon mal gehört.« – Eher nicht. Rat daneben.
Doch dann kam das wichtigste Buch seines Lebens, wie er sagte, und er packte – passend zum Ort – »Pippi Langstrumpf« aus, »von der großen Liberalen« Astrid Lindgren. Das kam gut an.
Wir hörten gut gelesen und doch zu schnell, nur abgelenkt von der Präsenz des Augenblicks, wie eigenartig und selbstbewusst das Mädel war, bis zur Schüsselszene: »›Warum ich rückwärts gegangen bin?‹, sagte Pippi. ›Leben wir nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte? Übrigens will ich dir sagen, dass in Ägypten alle Menschen so gehen, und niemand findet das auch nur im Geringsten merkwürdig.‹« (Seite 15f). Dann setzte er seine randlose Brille wieder auf und interpretierte das hin auf Toleranz und Selbstbewusstsein. Pippi wäre unter uns gemobbt worden, ist sie aber nicht, weil sie stark war. Und sie war ohne Eltern, da nach dem Krieg geschrieben (1945). Westerwelle: »Das Buch ist eine Freiheitsstatue der Toleranz, Antwort auf das Dritte Reich«. Rückblenden auf Zeiten, die den Schülern ferne waren, wieder und wieder Rückblenden auch später im Vortrag. Dabei stellt sich Westerwelle hervorragend auf sein Publikum ein, erklärt alles und jedes, um ja niemanden zu überfahren, sagt etwa, was eine Biographie ist und was die Mauer, warum ein König von »Gottes Gnaden« regierte und danach nicht mehr. Alles wird zum Tutorial, gut, geschichtlich und gelehrig, nur blieb es mir bei der eindeutig jugendlichen Zuhörerschaft halt eher grundsätzlich, fast platt. Ich googelte derweil Herrn Westerwelles Geburtstag: 27. 12. 1961, über zwanzig Jahre vor dem meinigen.
Das zweite Buch seiner Bücher war das Gundgesetz, Artikel eins: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«.
Beim dritten Lieblingsbuch wurde Westerwelle dann schon persönlicher: Christa Wolfs »Kassandra«. Frau Wolf hat andere politische Ansichten, meinte er, und doch sei dies seit über zehn Jahren sein Lieblingsbuch. Er zitierte: »Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter andern Sätzen: Laßt euch nicht von den Eignen täuschen.« – Auch da hat Westerwelle nicht viel heruminterpretiert (findet man dergleichen doch vielfach im Netz): Wo Toleranz endet, beginnt Krieg. Dennoch habe Toleranz Grenzen, etwa gegenüber Intoleranten. Ab da hätte es interessant werden können.
Nach dieser halben Stunde Lesen eröffnete Westerwelle die Diskussion. Die Schülerinnen hatten artig Fragen erarbeitet, die nun abgespult wurden, nicht alle erwähnenswert. Heraus kam Westerwelles Vorliebe für Liebesromane, für John Irvings Garp. Hat er Zeit zu lesen? – Ja, viel, sagt er, und man wundert sich. Er sei bei der Suche für heute unter seinen Reclamheften wieder auf Michael Kohlhaas gestoßen, der – und wieder alles bestens erläutert – sich ins Unrecht setzt, weil er Recht behalten will und unverhältnismäßige Mittel einsetzt. Der Lehrer kannte Kohlhaasen gut, der sei jedoch kein Thema mehr fürs Zentralabitur. Kein Wort über die Sprache.
Westerwelles Gabe, das, was er sagt, einfach zu sagen und gut zu erklären, hat mich recht beeindruckt (nur könnt’s halt mehr sein …). Oder können Politiker die Kunst, rechtzeitig ’s Maul zu halten? Si tacuisses – Ja, Biographien liest er gern, jetzt gerade die über Rathenau. Wenn der Mann nicht ermordet worden wäre …?
Ich frage ihn dann nach politisch-philosophischer Literatur, von Hayek vielleicht, damit Liberalismus begründet und nicht immer nur mit Laissez-faire in Verbindung gebracht wird. Falsch: Westerwelle hängt sich auf am Laissez faire, erklärt’s natürlich, verwirft’s für den Liberalismus, bejaht Staat – und Ende. Die Jugend möge die Parteiprogramme lesen, sich die Persönlichkeiten ansehen, ansonsten bei Kant nachschlagen, Geist der Aufklärung. Anfangen mit Zeitungslesen. Politik – mein’ ich – ist heute Macht oder Ohnmacht, nicht angewandte Weltanschauung. Praktisch, populistisch, aus einem festen Stand heraus und dann ad hoc. »Mittlere« Überlegungen, Grundsätze etwas höherer Art als »Toleranz«, »Gerechtigkeit«, »Solidarität« bleiben weg. Doch ich schweife ab.
Westerwelle ist gern Politiker, hält auch Opposition für wichtig, will aber 2009 in die Regierung. Wenn’s nach seinem Vater gegangen wäre, wäre er Handwerker geworden. Doch er wechselt mit 15 nach der Mittleren Reife aus der Realschule ans hiesige Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium und macht 1980 Abitur. Schon während dem Gymnasium Schülerzeitung, Jungliberale, und dann, unvergessen, eine erfolgreiche Unterschriftensammlung gegen das Fällen der Poppelsdorfer Allee.
Seine Vorbilder? (Man merkt, die Fragen waren geplant.) – Eher Leitbilder, meint er: Walter Scheel, Otto Graf Lambsdorff, Hans-Dietrich Genscher. Westerwelle nennt Scheels Brief zur deutschen Einheit (»Moskau, 12. August 1970. Seiner Exzellenz dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Herrn Andrej Andrejewitsch Gromyko, Moskau. Sehr geehrter Herr Minister, im Zusammenhang mit der heutigen Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken beehrt sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Genehmigen Sie, Herr Minister, die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung. Walter Scheel«).
Und dann begeistert sich Westerwelle noch für offene Grenzen, wieder für Freiheit. Er warnt, sie sei keine Selbstverständlichkeit und müsse verteidigt werden. Wann, wie und wo – soweit kommen wir leider nicht. Den Jugendlichen gibt er ein »Erkenne dich selbst« auf den Weg, und das ist ja wirklich schon einmal die halbe Miete. »Lernen Sie!« Die Schüler fanden ihn sympathisch.
Damit endet gegen 11.20 Uhr diese ungewöhnliche, erfrischende Lesung.

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