8. Juli 2013

Neusprech

Ich bin in Brünn geboren, mitten im Krieg. So steht das in allen meinen Ausweisen. Ich achte darauf, dass es dazu keine weiteren Angaben gibt. Die meisten meinen, Brünn sei irgendwo bei Ruhpolding. Oder sie schämen sich, nicht zu wissen, wo das ist, und fragen deshalb nicht nach. Fragt doch einmal wer, so antworte ich: "in Mähren". Was für die meisten noch fremder klingt, und sie sich noch weniger trauen, nachzufragen. Notfalls sage ich: "Das Mähren von 'Böhmen und Mähren'." Aha. In Brünn war ich übrigens noch nie, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Ich scheue mich davor, mir durch eine Reise in meine Geburtsstadt eine weitere "Gefühlsbaustelle" aufzumachen.
   Also nochmals: Ich bin ein Mensch mit "Migrationshintergrund", vermutlich sogar mit dem Zusatz "ohne eigene Migrationserfahrung". So bezeichnet man neuerdings die zweite Generation Ausländer hier. Hauptsache Hintergrund, Hauptsache ein langes, schönes Wort. Ab der dritten Generation wird dann der Hinterdrund zur bloßen ungenannten Abstammung.
   Um Worte streite ich schon jahrelang. Ob ich das als Frau genauso machen würde, weiß ich nicht. Jedenfalls geht mir der sprachliche Feminismus auf den Keks, primär aus Effizienzgründen, um es hässlich zu sagen. Sprache sollte knapp sein, klar sein, dem Leser verständlich. Ich hatte nichts gegen "Fräulein", habe jahrzehntelang solchen Liebesbriefe geschrieben und mir nichts dabei gedacht, dass die Angebetete dadurch zum Neutrum wurde oder gar diskriminiert unter den Frauen. Man wusste einfach klarer, worum es ging. Zahlreiche meiner Sprachtipps und Blog-Einträge drehen sich um dieses Thema. Gelegentlich ecke ich damit an und habe dadurch schon die schönsten Mailfreundschaften bekommen!
   Heute fand ich in der Neuen Zürcher Zeitung unter "Bildung und Gesellschaft" einen Artikel zum Thema: "Neusprech für Fortgeschrittene", den ich hiermit empfehle. Dazu gibt's ein Interview mit einer Sprachwissenschaftlerin, Luise F. Pusch. Man sieht, was dabei herauskommt, wenn man so etwas Praktisches wie Sprache Wissenschaftlern überlässt. (Was übrigens auch der Fehler der vermurksten Rechtschreibreform war.)
   Der NZZ-Artikel von Claudia Wirz spricht neben den üblichen Kuriositäten sehr gut an, wie die ganze sprachliche Doppelgeschlechterei den Leser vom Inhalt ablenkt und zu bloßen geschlechtsspezifischen Überlegungen hinführt. Als ob es im Leben immer darum ginge, ob nun ein Männlein oder Weiblein agiert. Mit mehr Differenzierung könnte man sich doch fragen: Betrifft das einen Jugen oder einen Alten, ein Kind oder einen Erwachsenen, einen Werktätigen oder einen Rentner, einen einfachen Menschen oder einen akademisch Bekränzten? Das macht doch allemahl mehr Unterschied als Frau oder Mann, jedenfalls bei den geistigen Themen, um die sich's bei uns Schöngeistern meistens dreht. Auf alle Fälle lenkt sprachliches Geeiere vom Inhalt ab. Wenn ich Heirije und Selin bei den Hausaufgaben helfe und damit meinen alternden Geist ein wenig rege halte, dann erkennt man schon an den Vornamen, was da das Problem ist. Das ist übrigens in manchen Fällen ein guter Ausweg aus der sprachlichen Misere der Genderei: Statt generellen Ausdrücken ganz konkret schreiben. Eh viel besser.

Link zu diesem Blog: http://blogabissl.blogspot.com/2013/07/neusprech.html

Die "nak", und deren
offizielle "Liste der sozialen Unwörter" vom 25. Februar 2013:
  1. Alleinerziehend (=Sagt nichts über mangelnde soziale Einbettung oder gar Erziehungsqualität aus. Beides wird jedoch häufig mit „alleinerziehend“ assoziiert)
  2. Arbeitslos/Langzeitarbeitslos (= Es sollte erwerbslos heißen, weil es viele Arbeitsformen gibt, die kein Einkommen sichern 
  3. Arbeitslose sind eine engagementferne Gruppe (= Damit wird nahegelegt, dass Erwerbslose sich nicht ehrenamtlich engagieren. Dagegen spricht schon die Vielzahl an Selbsthilfegruppen etc., in denen Erwerbslose aktiv sind)
  4. Behindertentransport (= Objekte werden transportiert, Menschen aber werden befördert)
  5. Bildungsferne Schichten (= Gemeint ist – und das sollte man auch sagen – „Fern vom Bildungswesen“ oder „vom Bildungswesen nicht Erreichte“)
  6. BuT’ler („butler“) (=Gemeint sind Nutzer des Bildungs- und Teilhabepakets der Bundesregierung. Der Ausdruck ist ähnlich reduzierend und deshalb diskriminierend wie „Der/Die ist Hartz IV“. Abschätzig ist er auch, wenn er englisch ausgesprochen wird: Butle r= Diener)
  7. „Der/Die ist Hartz IV“ (= Wer Grundsicherung – im Volksmund Hartz IV – erhält, wird darauf reduziert. Außerdem wird häufig mit dem Begriff assoziiert, Empfänger von Sozialleistungen seien arbeitsscheu und generell unfähig)
  8. Ehrenamtspauschale (= Richtig müsste es Ehrenamtseinkommensteuerpauschale heißen, denn besagte Pauschale kann nur entgegennehmen, wer eine Steuererklärung abgibt. Gerade arme Menschen können dies aber nicht, weshalb sie auch diese Entschädigung nicht erhalten)
  9. Eingliederungsverfahren (= Menschen außerhalb von pathologischen oder resozialisierenden Prozessen müssen sich nicht erst eingliedern)
  10. Flüchtlingsfrauen (= Überflüssig, weil das Wort Flüchtlinge beide Geschlechter umfasst. Ansonsten: ähnlich diskriminierend wie Arztgattin)
  11. Herdprämie (= diskriminierend, weil der Begriff unabhängig von der Positionierung gegenüber dem gemeinten Betreuungsgeld Frauen verunglimpft)
  12. Illegale (= Diesem Begriff ist tatsächlich nur die Losung entgegenzuhalten: „Kein Mensch ist illegal“)
  13. Massenverwaltbarkeit (= Wurde vom BMAS genutzt, wenn Individualisierungswünsche bei der Anwendung von SGB II abgewehrt werden sollten)
  14. Missbrauch (= Ist im Zusammenhang mit Sozialrecht und Sozialstaat - beispielsweise Missbrauch von Hartz IV – eine ungute Vokabel, weil damit ein schwerwiegender sexueller Straftatbestand assoziiert wird)
  15. Notleidender Kredit (=Wenn der Darlehensnehmer die Raten nicht mehr zahlen kann und das Darlehen infolgedessen gekündigt wird, gilt der Kredit als notleidend. Letzteres dürfte allerdings eher auf den Menschen in Zahlungsschwierigkeiten zutreffen.)
  16. Person mit Migrationshintergrund (= Häufig wird damit „einkommensschwach“, „schlecht ausgebildet“ und „kriminell“ in Zusammenhang gebracht. Während mit diesem Begriff Klischees reproduziert werden, wird er der sehr unterschiedlichen Herkunft der so Bezeichneten nicht gerecht.)
  17. Person mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung = (Siehe 16)
  18. Sozial Schwache (= Wer kein/wenig Geld hat, ist ökonomisch schwach, aber nicht sozial schwach)
  19. Sozialschmarotzer
  20. Trittbrettfahrer (= Wird auch für Menschen benutzt, die ein schwerwiegendes Delikt wiederholen oder davon profitieren)
  21. Vollkasko-Mentalität
  22. Wirtschaftsasylanten
  23. Wirtschaftsflüchtlinge
 

6. Juli 2013

Herzensträgheit

Mit der Trägheit des Herzens meine ich nicht die im Alter abnehmende Wattleistung am Fahrradergometer beim Belastungselektrokardiogramm, oder die von Rhythmusstörungen herrührende allgemeine Leistungsschwäche, oder den betablockergekappten Puls. Ich meine, das Gefühl ist zu langsam, oder das Leben ist zu schnell.
   Ich weiß noch, als ich als Student vom Fahrrad auf eine Vespa umstieg, auf einmal achtzig statt höchstens dreißig fuhr, auf der Autobahn statt am Wegesrand, da war mir das auch schon aufgefallen. Wo ich radelnd selbstverständlich jedes Randgeschehen zum Anlass einer Pause genommen hatte, war ich mit der Vespa bereits unumkehrbar weit fortgefahren, zumal auf der Autobahn. Da hatte mich die Maschine schon, statt dass ich sie "hatte".
   Unlängst auch wieder. Ich fahre bei strömendem Regen aus meinem reservierten Parkplatz heraus, eine Frau in einem Kleinwagen wartet brav, bis ich wieder ausgestiegen war, um den Poller hochzuklappen, und kurvte dann parkplatzsuchend umher. Vergeblich. Ich fuhr dann an ihr vorbei -- statt ihr meinen freien Platz anzubieten. Ein paar Stunden hätte sie da ja parken können, dann wegfahren, den Poller hochmachen, fertig.
   Man ist einfach zu langsam -- richtiger: Ich bin einfach zu langsam. Ich müsste derlei Situationen im Kopf trainieren, so, wie man sich vornimmt, bei Bremsmanövern nicht stur geradeaus aufs Hindernis hin zu bremsen sondern möglichst auszuweichen. Mental üben. Auch das Herz.

PS. Heute übrigens Lumen Fidei gelesen. Lang. "Unpraktisch". Aus einer anderen Zeit? Der Glaube als Allumfassendes: Tausende von Jahren, und mehr als eine ganze Welt. "Der Glaube ist nicht ein Licht, das all unsere Finsternis vertreibt, sondern eine Leuchte, die unsere Schritte in der Nacht leitet, und dies genügt für den Weg."