4. November 2014

Rechtschreibreform – letzte Aufführung

Aus der Wikipedia. Man beachte die ſſ- und ff-Ligaturen.
Gute alte Freunde reagierten mir jüngst wieder auf die neue deutsche Recht­schrei­bung. Die ist lange nicht mehr neu. Sie müsste inzwischen »gegessen« sein, meine ich.
   Sieht man sich die Rechtschreibreform »von 1996« in der Wikipedia an, zur Erinnerung, so findet man den Stand des Streits in den Neunziger- und Nullerjahren. Sogar alte Meinungsumfragen bis hinunter in die Historie im Jahr 1996 werden da zitiert, und das ist gewiss nicht mehr aktuell.
   Da ist die amerikanisch-englische Wikipedia schon vernünftiger. Auch sie ist von deutschen Rechtschreibreformgegnern leicht unterwandert, bemüht sich aber, nicht Meinungen sondern Fakten zu geben. Lesenswert! Vor allem stach mir ins Auge:
   »The so-called s rule makes up over 90% of the words changed by the reform. Since a trailing -ss does not occur in the traditional orthography (being replaced by ›ß‹) the -ss at the end of words like dass and muss is now the only quick and sure sign (unless the text is of Swiss origin) to indicate that the reformed spelling has been used (at least partly). All other changes are encountered less frequently and not in every text.«
   Will sagen: Mehr als das dass, das das daß ersetzt, fällt einem da nicht auf.
   Meine Erfahrung ist das auch. Man braucht eigentlich nur die inkonsequente »adelungsche s-Schreibung« der alten Rechtschreibung zu meiden, naß also nass sein lassen, und Nuß zur Nuss werden (aber ja nicht Ruß zu ändern). Schon schreibt man »neu«. Das internationalistische Packet für Paket wurde nicht zur Regel, mit dem Stopp und Tipps mit zwei p haben sich alle an­ge­freun­det, und ob man nun Gemse schreibt oder Gämse, ob zurecht, zu recht oder zu Recht ist ziemlich egal und fällt beim Lesen wenig auf. So richtig rechtschreiben (oder Rechtschreiben?) können die wenigsten, und die werden laufend weniger.
   Wir hatten ja jahrelang den akademischen Streit, ob man nun Alptraum oder Albtraum schreibt, lange vor der Reform. An die am meisten kritisierte Getrenntschreibung hält sich keiner, oder nur Leute mit Grammatik korrigierenden (grammatikkorrigierenden, Grammatik-korrigierenden) Textverarbeitungssystemen, und die oft falsch. Bei der neuen »Beliebigschreibung« fällt das weiter nicht auf.
   Besonders ärgerlich – für mich – sind Falschschreibungen etwa von daß beziehungsweise dass, weil das das Lesen deutlich erschwert, und das Einreißen der in allen deutschen Recht­schreib­grund­sätzen unzulässigen Binnenmajuskel à la ChristInnen. Ich halte schon den / in Fließtexten für falsch, weil man ihn nicht lesen kann, und schreibe und oder tippe lieber ohne. Liest sich viel besser. Die modischen Exotisierungen wie Zircus, sogar Circus für Zirkus, Cigarette mit »Zeh« usw. mag ich auch nicht, obwohl ich nicht von einer Kochlea schreibe sondern angepasst von der Cochlea.  Der Duden versucht tapfer E-Mail hochzuhalten:
   »E-Mail ist ein Substantiv und wird deshalb – wie alle Substantive – mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben. Mail ist auch ein Substantiv (innerhalb einer Zusammensetzung mit Bindestrich) und wird deshalb ebenfalls großgeschrieben. E und Mail werden mit Bindestrich verbunden, da Einzelbuchstaben generell mit Bindestrich »angekoppelt« werden: T-Shirt, U-Bahn
   Ich sag’ halt nur: »E-Mail wie H-Milch!«
   Die Zeitungen und Verlage schreiben inzwischen alle »neu«, fertig.
   Die Rechtschreibreform ist für mich gelaufen, sowohl die von 1901 (Thal wieder zu Tal und dass zu daß) als auch die von 1996 (daß wieder zu dass). Ende.

Links:
• Julius Wolff 1876: »An meiner Thüre du blühender Zweig … «
• Wolf Schneider 2007: »Die neue Rechtschreibung ist idiotisch.«Wolf Schneider: Ich schreibe in einem Punkt nach den neuen Regeln: Statt des scharfen S im Wort Schloss schreibe ich es mit Doppel-s. (Gut, wie Schneider vom scharfen großen S scheibt, denn das S ist ein Hauptwort. Ich erlaube mir allerdings statt dem vorzuiehen; wäre auch lt. Duden hier richtiger, »weil der Genitiv nicht zu erkennen ist.« So ein Schmarren. fj)
• »Das wär’ mir eine rechte Rechtschreibreform!«
• Generell sind Rechtschreibreformen  nicht populär. Ein Blick nach England: »Spelling reform has rarely attracted widespread public support, sometimes due to organized resistance and sometimes due to lack of interest. There are a number of linguistic arguments against reform; for example that the origins of words may be obscured. There are also many obstacles to reform: this includes the effort and money that may be needed to implement a wholesale change, the lack of an English language authority or regulator, and the challenge of getting people to accept spellings to which they are unaccustomed.« Und: »In 2013, University of Oxford Professor of English Simon Horobin proposed that variety in spelling be acceptable. For example, he believes that it doesn't matter whether words such as ›accommodate‹ and ›tomorrow‹ are spelled with double letters.«

Link hierher: http://blogabissl.blogspot.com/2014/11/rechtschreibreform-letzte-auffuhrung.html

Passend zum Thema lese ich einen Artikel im druckfrischen Sprachdienst 5-6/14 der Gesellschaft für deutsche Sprache von Frau Dr. Sabine Krome, der Chefredakteurin des Wahrig. Sie geht auf die Entwicklungen nach der »Neuregelung des Rechtschreibrats 2006« ein, bei der der »tat­säch­li­che Sprachgebrauch, sowie auch semantische Aspekte« stärker berücksichtigt worden waren. Damals fiel viel von der stürmisch (und meines Erachtens zurecht) kritisierten neuen Ge­trennt­schrei­bung, ohne, dass wir’s noch groß bemerkt hätten. Merke: Ist einmal der Ruf verdorben, will Jahre später keiner mehr davon hören, geschweige denn seine Meinung ändern.
   Hier ihre Beobachtung zum praktischen Gebrauch von zum Beispiel offenlegen.
*) Jahreszahlen mit Sternchen bedeuten, dass die betreffende Schreibung damals falsch war.
© Wahrig-Redaktion (mit freundlicher Erlaubnis)
 Von 1996 bis 2005 war Getrenntschreibung, offen legen, Vorschrift. Dadurch litt die Ver­bund­schrei­bung, was man aus der roten Offenlegen-Kur­ve sieht. Über sechzig Prozent der Schrei­ben­den hielt sich brav an die neue Vorschrift der Getrenntschreibung, aber halt nur zwei Dittel. Nachdem 2006 wieder offenlegen zur Norm geworden war, erholte sich die Schrei­bung zunächst rasch und dann langsam weiter. – Der Schaden ist passiert.

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